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Mit Gott hinschauen
Andacht
Dietmar Arends | 30. Dezember 2022
Über den Predigttext zur Jahreslosung für das Jahr 2023: 1. Mose 16, 13
Predigttext
Du bist ein Gott, der mich sieht.
Schon wieder wurde sie bei der Beförderung übersehen. Ein jüngerer Kollege erhielt den Vorzug. Warum sah sie niemand? Manchmal dachte sie, dass es keiner mitkriegen würde, wenn sie nicht mehr käme.
Gesehen und wertgeschätzt werden, das brauchen wir Menschen. Das beginnt schon im Sportunterricht beim Auswählen der Mannschaften, später in der Tanzstunde, in den sozialen Netzwerken, bis hin zu Gesprächen in großen Runden. Es tut weh und macht im schlimmsten Fall krank, links liegen gelassen und nicht beachtet zu werden.
Selten habe ich mich so über eine Jahreslosung gefreut, wie über diese sieben Worte: „Du bist ein Gott, der mich sieht“. Dieser Ausruf einer Frau, der im hebräischen Original nur aus zwei Worten besteht, ist eigentlich eher ein Name, den sie Gott gibt. Aus ihm spricht so viel Liebe und Zuwendung. Wie gut das ist, wie gut das tut, das zu wissen: Gott ist ein Gott, der mich sieht! Wenn Gott seinen Blick auf mir ruhen lässt, dann bin ich ihm wichtig.
Sehen, hören, ernst nehmen
Es ist eine ganz außergewöhnliche Geschichte, in der dieser Satz fällt. In ihr wird auf besondere Weise deutlich, was das wirklich bedeutet, dass Gott so hinsieht. Es ist Hagar, die diese Worte spricht, eine Frau, eine Magd, eine Ausländerin, eine Flüchtende, eine Andersgläubige. Ausgerechnet sie kommt zu diesem Bekenntnis: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“
Weil Sara, Hagars Herrin, keine Kinder bekommt, soll Hagar als Leihmutter dienen. Für uns unvorstellbar, im alten Orient ein durchaus üblicher Vorgang. Hagar wird schwanger. Doch das Ganz gerät aus dem Ruder. Die beiden Frauen geraten so aneinander, dass Hagar schließlich die Flucht ergreift. Sie hält es nicht mehr aus. Gefragt hatte sie vorher wahrscheinlich keiner.
Ihre Flucht endet in der Wüste. Ihre Aussichten stehen schlecht: Allein, ohne Essen, ohne Trinken, ohne Familie. Sie findet eine Wasserquelle und dort begegnet ihr ein Engel. Er sieht sie, spricht sie mit ihrem Namen an und fragt sie: „Wo kommst du her und wo willst du hin?“ Der Bote Gottes nimmt diese Frau wichtig, nimmt ernst, was ihr geschieht. Und so erzählt sie ihre Geschichte. Der Engel verkündet dieser Frau auf der Flucht Unfassbares, zuvor nur Abraham versprochen: Sie wird unzählig viele Nachkommen haben. Der Anfang wird der Sohn sein, den sie bekommt. Den soll sie Ismael nennen, was soviel heißt wie „Gott hört“.
Hagar erlebt sich von Gott gesehen, gehört, verstanden, in ihrer Würde wahrgenommen. Und so ruft sie aus: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Gott sieht mit einem liebevollen, anteilnehmenden und gnädigen Blick auf seine Menschen. Gott schaut nach uns, wendet sich uns zu. Schon hier am Anfang der Bibel wird etwas ganz Entscheidendes von Gott deutlich. Gottes Blick gilt in besonderer Weise den Menschen, die so leicht aus dem Blick geraten. Gott schaut sie an, die Armen und Entrechteten, die Fremden und die auf der Flucht. Dieser barmherzige Blick Gottes zieht sich wie ein roter Faden durch die Bibel.
Hagars Glaubensbekenntnis
Hagar trifft dieser Blick am Tiefpunkt ihres Lebens. Er verhilft ihr dazu, ihren Weg, der weiterhin nicht einfach sein wird, gestärkt und selbstbewusst weiterzugehen. Und so benennt sie Gott mit diesem Namen. Ein einmaliger Vorgang in der gesamten Bibel. Es ist Hagars Glaubensbekenntnis: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“
Für mich ist das ein wundervolles Wort am Anfang des neuen Jahres. Darauf möchte ich vertrauen, dass Gott mich sieht auf meinen Wegen durch dieses Jahr. Wenn Gott uns sieht, dann kann ich wissen: Wir sind ihm alles andere als gleichgültig.
Die Bibel weiß allerdings auch davon zu erzählen, dass uns das manchmal zweifelhaft werden kann, ob Gott eigentlich noch hinsieht. Menschen erleben große Not und haben den Eindruck: Gott sieht sie nicht. Warum sonst lässt er zu, was ihnen widerfährt. Und so beten sie: „Gott verbirg dein Angesicht nicht vor mir; wende dich mir zu, schau mich wieder an!“
Die Welt, wie wir sie heute erleben, mit ihren Krisen und Kriegen, gibt viel Anlass zu glauben, Gott würde nicht mehr hinschauen. Doch die Bibel erzählt uns von einem Gott, der genau dorthin schaut, wo Menschen leiden, der seinen Blick auch von den elendsten Orten dieser Welt nicht abwendet. Und dann erzählt die Bibel davon, dass Gott uns bittet, mit ihm dorthin zu schauen. Er bittet uns, uns von der Not der Menschen berühren zu lassen, wie er sich berühren lässt.
Hagars Glaubensbekenntnis möchte ich mitnehmen für das neue Jahr und mich jeden Tag neu daran erinnern lassen: „Du bist ein Gott, der mich sieht“. Und dann möchte ich etwas von seinem Blick gewinnen für meinen Blick auf die Menschen.
Gebet
Barmherziger Gott, du bist ein Gott, der mich sieht. Dafür kann ich dir nur danken. Zugleich bitte ich dich: Lass mich mit deinen Augen sehen lernen: Mich selber und die Menschen neben mir und das, was sie von mir brauchen. Die Schönheit deiner Schöpfung und das, was hilft, sie zu erhalten. Erbarme dich mit deinem liebevollen Blick! Amen.
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