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So sieht der Kirchentag gleich ganz anders aus: Nina Hagen, schrill, verstörend, voller Herz. Fotos: gmh

Der absolute Oberhammer: Nina Hagen

Kirchentag schrill

Aus dem Archiv (15.05.2010)

Wer ist der Star des Ökumenischen Kirchentags in München? Margot Käßmann? Angela Merkel? Bis gestern Nachmittag hätten wir noch vorbehaltlos zugestimmt. Aber dann kam Nina Hagen. Und auf einmal war alles ganz anders.

»Praise the Lord!«, ruft die Ikone der deutschen Punkmusik, als sie sich auf das Rote Sofa wirft. Gerade hat sie ihr neues Buch auf den Markt gebracht. »Bekenntnisse«, heißt das Werk. Darin beschreibt sie ihr Leben als legendäre Figur der schrillen Musikszene, wie und warum sie sich kürzlich hat taufen lassen und vor allem, was seitdem in diesem Leben alles anders geworden ist. Da passt es natürlich gut, wenn sie der Einladung der Kirchenpresse folgt und sich und ihr Buch beim Talk auf dem Roten Sofa ein bisschen vorstellt.## »Gitarren statt Knarren«, fordert die Sängerin, der man die (nach eigener Aussage) 55 Jahre kein bisschen ansieht. Schwarz gefärbte Turmfrisur und - Ninas Markenzeichen - ein Makeup, dass an den Joker bei Batman erinnert, lassen die Erscheinung seit mindestens drei Jahrzehnten zeitlos erscheinen. Die Interviewerin, Andrea Seeger von der Evangelischen Sonntagszeitung in Frankfurt, nimmt den Ball geschickt auf. Sofort entwickelt sich ein rasantes Ping-Pong-Spiel zwischen den beiden Frauen. Es folgt: eine halbe Stunde Dauerfeuer. Ein Gemisch aus Anekdoten, Nonsens, irrlichternden Gedankengängen. Und immer wieder erstaunlich ernsthaften Einschüben. Nina Hagen erzählt in beinahe ein und denselbem Atemzug von ihrer Liebe zu Jesus, davon, wie sie zwei frühere Abtreibungen belasten und wie sie als christliches Bekenntnis schon früh das »Unser Vater« aufgeführt habe - in einer Säbeltanz-Version. Was soll man davon halten?

<b>Spielten einander die Bälle </b> beim Roten Sofa der Kirchenpresse in München zu: Nina Hagen und Andrea Seeger (links).

Spielten einander die Bälle beim Roten Sofa der Kirchenpresse in München zu: Nina Hagen und Andrea Seeger (links).

Die Zuschauer staunen. Das ist ... anders. Anders als man es sonst von Kirchentagen kennt. Kaum einer der Anwesenden dürfte schon einmal etwas Vergleichbares erlebt haben. Etliche hundert Menschen sind gekommen, jung, alt, ganz jung, ganz alt. Sie füllen den Platz auf der nassen Wiese vor der Bühne, auf der das Rote Sofa steht. Nina Hagen und Kirchentag - da konnte man ja schon erwarten, dass es schräg wird. Aber dass es dann SO schräg werden würde ... Nina Hagen ist fromm, auf fast kindliche Weise. Sie erzählt, wie sie mal eben etwas »mit dem Jesus bespricht« - ihre Umschreibung fürs Gebet. Sie ist betont naiv (»Ich will ein großes Friedens-Konzert in Kabul machen, damit der Krieg da unten endlich aufhört«). Sie erzählt im Brustton tiefster Überzeugung, dass »man ja nicht lügen« dürfe als Christ, und wie toll sie den Gottesdienst in ihrer Heimatgemeinde im Hannoverschen finde mit all den neuen Glaubensgeschwistern: »Da ist so viel Liebe zwischen uns.« Man könnte das für ganz große Show halten. Wenn da nicht immer wieder etwas durchblitzen würde. Mal ist es ein Augenaufschlag. Für einen Moment wirkt die Hagen dann so gar nicht durchgeknallt. Dann wieder ist es die Art, wie in ihren aberwitzigen Storys (»als kleines Kind bin ich immer am Sonntagmorgen in den Gottesdienst der Neuapostolen gegangen; meine Eltern haben das lange Zeit gar nicht gemerkt, weil sie morgens immer so lange geschlafen haben«) tiefes Gefühl und echtes Herzblut durchschimmern. Und vor allem ist es ihre Art, mit den Menschen im direkten Kontakt umzugehen: Als der halbstündige Talk vorbei ist (Nina Hagen greift zum Schluss noch zur Gitarre und gibt ein punkig-rockiges Vaterunser zum Besten), sind Autogramme angesagt. Dutzende drängen sich vor dem kleinen Zelt neben der Bühne, indem die Hagen ihr neues Buch signiert. Und Nina Hagen nimmt sich Zeit für die Menschen.
<b>Riesen Andrang bei </b> der Signierstunde von Nina Hagen im Zelt der Kirchenpresse neben der Bühne mit dem Roten Sofa.

Riesen Andrang bei der Signierstunde von Nina Hagen im Zelt der Kirchenpresse neben der Bühne mit dem Roten Sofa.

Es ist kaum zu glauben, wie sehr sie sich um jeden einzelnen kümmert. Sie scherzt, neckt, singt mit ihnen, nimmt die Menschen in die Arme. Unendlich geduldig. Posiert mit jedem, wirklich: jedem, für ein Foto. Diese Frau hat eine Präsenz, die schwer zu beschreiben ist. Die Menschen sind fasziniert, 13-jährige Teens mit Zahnspange ebenso wie die Nonne in voller Tracht oder das ältere Ehepaar, das sich am nächsten Morgen nach dem Aufwachen vermutlich verwundert die Augen reiben wird und sich fragt: Was haben wir da gestern eigentlich gemacht? Aus der einen Signierstunde werden zwei. Der Ansturm ist gewaltig. Ordner müssen den Andrang eindämmen.
<b>Was für ein Tag! </b> Spontane Liebesbezeugung: Nina Hagen eilt zu einem Rollstuhlfahrer.

Was für ein Tag! Spontane Liebesbezeugung: Nina Hagen eilt zu einem Rollstuhlfahrer.

Und dann diese Szene, fast wie im Evangelium: Freunde bringen einen Gelähmten. Zum Zelt, in dem Nina Hagen die Bücher signiert. Keine Chance für den Elektro-Rollstuhl, die Menschenmenge zu passieren. Irgendjemand erzählt der Hagen davon. Und sie? Sie schmeißt Stift und Buch beiseite, rennt nach draußen zum Rollstuhl, umarmt den darin Sitzenden. Küsschen hier, Küsschen da. »Du bist mein geliebter Bruder«, sagt sie. Und komisch, irgendwie glaubt man ihr. Sie setzt sich auf eine der Lehnen des Rollstuhls, die Freunde machen Fotos davon. Noch eine Umarmung. Und noch eine. Der junge Mann weint vor Glück. Klingt verstörend. Ist es auch. Aber so ist sie, die Nina: Der absolute grelle, schrille, schräge Oberhammer. Bei dem man nie weiß, was als Nächstes kommt. Aber an diesem Nachmittag - und bis tief in den frühen Abend hinein - zeigt sie Herz. Ein Herz, dass so groß ist, dass darin Hunderte einen Platz finden. Für diese Menschen, das ist klar, leuchtet ein Star, ein neuer Stern beim Kirchentag. Einer, der zugegebenermaßen arg schräg am Himmel hängt. Weitere Berichte vom Kirchentag in München Kirchentags-Fotoalbum gmh